Verschlafen
Wohlig räkelte sich Ilse im Bett, streckte und reckte sich, um sich dann wieder auf die Seite zu legen. Ihre Gedanken waren bei dem Traum, den sie gerade gehabt hatte. Sie wollte sich die Einzelheiten nochmal ins Gedächtnis rufen, war er doch sehr angenehm gewesen. Nach einigen Minuten seufzte sie auf. Ihre Blase drückte, es half wohl alles nichts, sie musste aufstehen. Als sie ihre Augen aufschlug, erblickte sie die wohlvertrauten Einzelheiten ihres Schlafzimmers: Den Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand, die Vitrine mit den hübschen Tierfiguren, die sie sammelte, die selbstbemalten Bilder daneben.... Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Wieso sah sie all diese Dinge so deutlich? Mit Entsetzen registrierte sie, dass es bereits taghell war, die Sonne musste schon vor einiger Zeit aufgegangen sein. Der Wecker bestätigte ihre Befürchtungen – sie hatte verschlafen! Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, trat auf die Socken, die sie gestern Abend achtlos neben das Bett hatte fallen lassen, rutschte aus, versuchte armerudernd das Gleichgewicht zu halten – und fiel rücklings auf das Bett zurück. Mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem saß sie da und dankte all ihren Schutzengeln für diesen glimpflichen Ausgang. Aber nur kurz, dann wagte sie das Abenteuer des Aufstehens erneut und diesmal bewältigte sie es ohne Schaden. Mit langen Schritten durchquerte sie den Flur, düste in`s Bad, riss sich das Nachthemd herunter und betrat die Dusche. Im Eilverfahren machte sie sich nass, seifte sich ein, wusch alles wieder ab – um dann festzustellen, dass sie in ihrer Hektik kein Handtuch mitgenommen hatte. Ilse fluchte laut, heute ging aber auch alles schief. Tropfnass rannte sie in das Wohnzimmer, holte ein Handtuch aus dem Schrank, trocknete sich ab und schlüpfte in ihre Klamotten. Auf den Kaffee und das Marmeladenbrötchen musste sie heute verzichten. Wenn sie sich beeilte, überlegte sich Ilse, würde sie nur eine knappe Stunde zu spät kommen. Während sie die Jacke anzog, fiel ihr Blick auf die Wasserlachen, die sie auf dem Boden hinterlassen hatte. Sie zuckte die Schultern, das Aufwischen musste bis zum Abend warten, keine Zeit jetzt dafür. Sie schnappte sich ihre Tasche, nahm den Haustürschlüssel vom Board neben der Wohnungstür und eilte mit langen Schritten zum Aufzug. Wieso kam das blöde Teil bloß wieder nicht?
„Ich krieg die Krise, nun komm endlich, du Miststück!“
„Frau Kramer, sie sind aber früh auf heute? Wollen sie ins Freibad?“
Genervt schaute sich Ilse um und sah ihren Nachbarn auf sie zukommen.
„Nein, ich gehe zur Arbeit.“
„Was, sie arbeiten jetzt auch Sonntags?“
Ilse schaute Herr Maier fassungslos an.
„Sonntag?“, flüsterte sie. „Heute ist Sonntag? Das gibt es doch gar nicht!“
Sie fing zu lachen an, lachte bis ihr die Tränen kamen. Das dürfte sie bei Gott niemanden erzählen – sie hatte tatsächlich Sonntags zur Arbeit gehen wollen! Immer noch lachend verabschiedete sie sich von Herr Maier, ging zurück in ihre Wohnung und legte sich wieder ins Bett. Was für ein Morgen!
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