Wo ist Lucas?
Als schließlich endlich die Schulglocke läutete, machte sich Emma daran ihre Hefte und Schreiber zusammenzupacken. Da wandte sich Elli an sie und fragte, ob sie schon etwas für den Nachmittag geplant hätte und ob sie heute gleich nach der Schule ausreiten wollten und später dann gemeinsam die Hausaufgaben erledigen wollten. Emma blickte auf und sah zum Fenster, das Wetter war heute einfach klasse für einen Ausritt und gerade wollte sie auf Ellis Vorschlag eingehen, als ihr Lucas einfiel. Lucas, dessen Geheimnis sie waren wollte. Also schüttelte sie schließlich den Kopf und erwiderte entschuldigend: „Sorry, heute geht es leider nicht,… ist,… ne Familienangelegenheit, kann da jetzt nicht drüber sprechen,…“. Sie wusste, dass ihre Freundinnen in Familienangelegenheiten nicht weiter nachhakten. Elli blickte ihre Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen an. Es war immer eine Familienangelegenheit. Und häufig gab es bei Emma Familienangelegenheiten über die ihre Freundin nicht sprach. Ob es in Emmas Familie gar irgendwelche Geheimnisse gab über die nicht gesprochen wurde. Eigentlich kam ihr Emmas Familie fast wie eine Bilderbuchfamilie vor, auch wenn sie wusste, dass Catalina und Jason nicht Emmas richtige Eltern waren, aber zumindest hatte sie bei ihnen eine tolle Familie. Emma hatte ihr mal erzählt, dass Catalina ihre Tante wäre. Doch manchmal wunderte sie sich doch ein wenig über das Verhältnis zwischen Emma und ihrer Cousine. Dann jedoch stand Emma auf, hängte sich ihre Umhängetasche um, warf Elli noch kurz ein entschuldigendes Lächeln zu und verschwand dann rasch aus dem Klassenzimmer.
Emma hoffte, dass mit Lucas zu Hause alles in Ordnung war. Natürlich bedauerte sie, dass er sich noch heute wieder auf den Weg machen wollte, aber sie sah auch ein, dass es das Beste war, denn ewig konnte sie ihn nicht verstecken, früher oder später würden ihre Eltern oder auch Catalina und Jason etwas merken. Lucas hatte ihr bisher noch nicht gesagt wo sein leiblicher Vater lebte, aber sie hatte an diesem Vormittag den Entschluss gefasst, dass sie ihn weiter unterstützen wolle, vielleicht sogar begleiten, wenn er es zuließ.
Die Fahrt mit dem Bus kam ihr heute endlos vor, doch schließlich hielt der Bus endlich an der Haltestelle. Emma stieg aus und ging nun noch ein paar Meter auf dem Fußweg an der Bundesstraße entlang ehe sie nun jedoch rechts in eine kleine Sackgasse einbog an der ein paar Wohnhäuser standen. Als sie in einem der Vorgärten eine ältere Dame beim Rosenschneiden sah, grüßte sie kurz höflich, ging dann jedoch weiter. Kurz darauf überquerte sie die Schienen der Museumsbahn und ging nun noch ein Stück auf dem Weg an den Koppeln entlang bis sie schließlich endlich den Hof erreichte.
Sie überquerte nun den Hof und betrat kurz darauf den Stall. Kurz blickte sie sich um und lief dann die Treppe nach oben auf den Heuboden rauf. Sie öffnete die Tür und ging nun über den Boden zu Lucas‘ Lager und, erstarrte, als sie dieses verlassen vorfand. Wo war Lucas? Hatte er sich nun etwa doch einfach verdrückt ohne auf sie zu warten? Für einen Moment überkam sie eine Welle der Enttäuschung. Sie ließ sich auf Lucas‘ Lager nieder und starrte auf die Teekanne, die noch immer neben Lucas‘ Lager stand. Sie hatte nicht einmal eine Handynummer von Lucas. Konnte ihn nicht einmal mehr kontaktieren. Würde nie erfahren was aus ihm geworden war. Dann jedoch wechselte ihre Enttäuschung Ärger. Warum war er einfach wieder verschwunden. Nach allem was sie für ihn getan hatte? Dann jedoch kam ihr auf einmal ein Gedanke. Was wenn Lucas gar nicht verschwunden war? Was wenn er gar erwischt worden ist. Doch sie schob den Gedanken wieder beiseite. Sie musste wieder an Elli denken. Sollte sie ihre Freundin anrufen und sich doch mit ihr zum ausreiten verabreden? Doch vorerst verwarf sie den Gedanken wieder, denn sonst würde es sicherlich Fragen aufwerfen warum sie nun doch auf einmal Zeit hatte.
Also stand sie nun auf, verließ den Heuboden und ging nun, noch immer etwas geknickt hinüber ins Haus.
Sie stellte ihre Tasche im Flur ab und ging in die Küche um zu sehen, ob es schon Mittagessen gab. Doch in der Küche war niemand. Sie drehte sich nun gerade wieder um, wollte zunächst nach oben gehen, als sie nun Catalina in der Tür zur Küche stehen sah, mit verschränkten Armen blickte sie Emma ernst an und erkundigte sich nun: „Emma. Hast du mir irgendetwas zu sagen?“. Irritiert blickte Emma ihre Großmutter nun an, überlegte worauf Catalina hinaus wollte. Dann jedoch schüttelte sie erst einmal vorsichtig mit dem Kopf. Daraufhin zog Catalina fragend leicht die Augenbrauen hoch und erwiderte: „Wirklich nicht? Du willst mir nicht zufällig sagen, warum meine große blaue Thermoskanne auf dem Heuboden liegt und warum dort ein Schlaflager mit diversen unserer Pferdedecken hergerichtet ist? Triffst du dich dort etwa heimlich mit nem Jungen? Ich dachte wir hätten dich zur Ehrlichkeit erzogen?“ Für einen Moment erschrak Emma. Hatte Catalina Lucas entdeckt? Doch dann entnahm sie Catalinas Worten, dass sie das Lager anscheinend entdeckt haben musste nachdem Lucas verschwunden war. Emma senkte leicht den Blick. Was sollte sie antworten? Sollte sie von Lucas erzählen? Andererseits? Er war eh weg. Also beschloß sie einfach Catalina in dem Glauben zu lassen, sie hätte einen heimlichen Freund. Verlegen lächelte sie ihre Großmutter nun an und meinte mit einem leichten Grinsen: „Uuh, erwischt,…“.
Dann wollte sie sich an ihrer Großmutter vorbeischieben. Doch nun verstellte Catalina ihr den Weg, blickte sie ernst an und sagte nun: „Okay,… oder besser gesagt, sag mir bitte was du dir dabei gedacht hast, Lucas auf dem Heuboden zu verstecken. Der Junge hätte sich da oben den Tod holen können,… auch wenn es da wahrscheinlich weitaus wärmer wäre als in seinem Zelt!“ Erschrocken blickte Emma ihre Großmutter nun an. Sie wusste es. Sie wusste, dass sie gelogen hatte. Sie hatte Lucas entdeckt. Und sie wusste Bescheid. Emma senkte den Blick. Sie wusste nicht was sie nun sagen sollte. Erwartete nun ein Donnerwetter. Doch es kam nichts. Catalina sah sie nur schweigend an. Dann meinte sie mit gefasster Miene: „Ich nehme an, du hast mit Lucas nicht darüber gesprochen wo sein leiblicher Vater lebt, oder?“
Verblüfft starrte Emma Catalina nun an. Musterte ihre Großmutter. Warum wusste sie so viel über Lucas? Was wurde hier eigentlich gespielt? Irgendwie hatte Emma auch gerade das Gefühl, dass Catalina sich gerade ziemlich zu amüsieren schien. Ihr jedoch war gerade alles andere als nach Späßen zumute, also erwiderte sie nur unwirsch: „Ja schön. Gut. Ich habe gelogen. Ja, ich habe Lucas auf dem Heuboden versteckt. Es war ja auch nur für eine Nacht, er wollte sich heute ohnehin wieder auf den Weg machen. Er ist ja auch schon weg,… aber wieso weißt du so viel über ihn, sogar von seiner Suche nach seinem Vater. Wo ist er?“
Nun musste Catalina grinsen, es machte ihr in der tat gerade durchaus ein wenig Spaß ihre Enkelin an der Nase herumzuführen, doch sie fand, dass es nun reichte und so meinte sie nun: „Ich habe ihn oben auf dem Heuboden gefunden, habe ausführlich mit ihm gesprochen und schließlich hat er mit seinen Eltern telefoniert. Sie werden ihn heute noch abholen.“ Überrascht blickte Emma Catalina nun an. Lucas‘ Eltern würden hier her kommen. Dann musste Lucas ja noch hier sein. Fragend blickte sie Catalina nun an, „Wo ist er denn jetzt?“ Catalina musste kurz lachen, dann beschloss sie Emma nun auch über den Rest aufzuklären: „Lucas ist gerade mit seinem leiblichen Vater unterwegs. Anscheinend seid ihr noch nicht bei dem Punkt angekommen, an dem er dir erzählt hat, dass Jason sein Vater ist.“ Bei Catalinas Worten erstarrte Emma. Nun trat Catalina auf Emma zu, nahm sie in den Arm und meinte: „Aber mach dir nichts draus, es gibt sicherlich eine ganz einfache Erklärung dafür, dass er dir bisher davon noch nichts erzählt hat.“ Emma schwieg. Die Neuigkeiten musste sie erst einmal verarbeiten.